Ein Stein (1)
Ohne Rücksicht auf die späte Uhrzeit tritt der Sturm die klapprige Tür zu meiner Holzhütte auf und wirft mir eine frische Böe entgegen – als wolle er mich nach draußen bitten. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und lasse den Geschmack der feuchten Luft auf meiner Zunge zergehen. Ich genieße den Gedanken an den ungeduldig Wartenden in der Tür – und das beseelende Gefühl der unaufhaltsam verstreichenden Zeit. Ich lasse die Arme locker, strecke die Beine, lege den Kopf in den Nacken. Nach einigen Sekunden, Minuten oder Stunden – ich weiß es nicht genau – öffne ich die Augen wieder und nehme die Einladung dankbar an.
Der Regen hat das Holz auf meiner Veranda mit dunklen Flecken besudelt. Im Osten steigt der Mond auf, begleitet vom Zirpen der Grillen, die sich rings um meine Unterkunft in trockene Höhlen geflüchtet haben. Vor mir liegt ein wilder, ungepflegter Garten. Ich habe mir vorgenommen, ihn so lange nicht zu pflegen, bis meine Nachbarn mich mit bösen Blicken strafen. Oder bis das Grün so hoch ist, dass man darauf eine Decke ausbreiten könnte – und Halme, Blüten, Blätter, Strünke und Kraut zu einer weichen Landschaft mit Tälern und Gebirgen würde.
Mit einem Rasenmäher ließe sich die „Ordnung“ nicht wiederherstellen. Ich müsste mit einer sorgfältig geschliffenen Sense die sorglos gewachsene, mannshohe Flora durchpflügen. Nach jedem zweiten oder dritten Hieb bräuchte ich eine Pause. Und dann säße ich in der Lichtung aus niedergemähtem Gras und stellte erleichtert fest, dass ich diesen Ort zu meiner Zuflucht gemacht habe – weil es hier nichts gibt außer Wind, Gras und Einsamkeit. Und dann ließe ich der Natur wieder ihren Lauf – für die nächsten zehn, zwanzig Jahre.
Der Regen nimmt zu. Eine rostige Schubkarre scheint mit flüssigen Schnüren an den Boden gekettet zu sein. Zwei große, ausgefranste Löcher im Blech starren mich traurig an. Wäre ich mit etwas handwerklichem Geschick und botanischem Enthusiasmus gesegnet, würde ich der Schubkarre ein würdevolleres Leben als Blumenkübel ermöglichen. Doch mehr als der behende Umgang mit der Sense liegt mir nicht. So fristet sie nun ein Dasein als hohle Gespielin eines unerbittlichen Klimas. Beim Anblick der groben, mit Splittern garnierten Holzgriffe denke ich an die Blasen an meinen Händen und meinen schmerzenden Rücken – und habe trotzdem Mitleid mit ihr.
Vom Wald im Westen her frisst sich die Nacht in meinen Garten. Im fernen Norden dampft eine Straßenbeleuchtung ihre schwache Botschaft in die Dunkelheit. Nur der Süden entzieht sich mit einer unaufdringlichen Gleichgültigkeit dieser poetischen Szenerie.
Auf einem Holztisch direkt hinter der aufgestoßenen Tür steht ein kleines, aber kräftiges Gaslicht – neben einer kupfernen, von Hand geschmiedeten Gurkengabel und einem noch ungeöffneten Glas Spreewälder Gewürzgurken. Das Glas stammt von meiner Mutter aus Deutschland. Als ich nach dem Zwischenfall von der Bildfläche verschwinden musste, war sie die Einzige, der ich von meinem Versteck erzählte. Das Risiko, entdeckt zu werden, war überschaubar – und ich musste nicht auf meine Leibspeise verzichten: Gewürzgurken.
Das Gaslicht zeichnet meinen schwachen Schatten in das nasse Gras vor mir, umrandet von einem hellen Trapez. Mit größter Vorsicht schiebe ich meinen linken Fuß über die Holzkante der Veranda und taste mit ihm nach den feuchten Halmen. Erst als ich mich an die Frische gewöhnt habe, verlasse ich das schützende Vordach.
Der erste Regentropfen landet in der Mitte meiner Stirn und zersplittert in tausend winzige Partikel. Der Aufprall hinterlässt einen leichten, kühlen Druck zwischen meinen Augen. Es folgt eine Armee von Tropfen, die sich daran macht, erst mein Gesicht, meine Schultern und schließlich meinen ganzen Körper zu erobern. Die Nässe heftet sich an meine Kleider, um sich langsam zu meiner Haut durchzukämpfen.
Ich stehe nun vollends im Regen, hebe meine Arme etwas an, drehe die Handflächen nach oben, lege den Kopf zurück – und wünsche mir, jemand könnte diesen epischen Augenblick mit einer Kamera festhalten.
Ein stumpfes Uff zerreißt das strömende Schauspiel.
Ich lasse die Arme sinken, öffne die Augen und blicke mich verwundert um. Bin ich noch allein? Der Regen hat nachgelassen, es ist still geworden.
„Hallo?“ Langsam gehe ich auf die Veranda zu. Wasser fließt aus den Haaren über mein Gesicht, als wäre ich gerade aus einem See gestiegen. Um mir Mut zu verschaffen, puste ich mit einem kräftigen Stoß Luft durch meinen leicht geöffneten Mund. Eine Handvoll Tropfen stiebt in alle Richtungen davon.
„Jemand da?“
Im Gras vor mir bemerke ich einen Stein, faustgroß und leuchtend grau, der trotz des Regens trocken scheint.
„Hallo?“ rufe ich erneut in die feuchte Nachtluft.
„Sorry, ich hab leider keine Kamera.“ kommt es aus der Richtung des Steins, der da vor mir liegt. Grau und regungslos. Ich hocke mich vor ihn und schaue ihn ungläubig an.
„Was schaust du so vorwurfsvoll? Was soll ich mit einer Kamera? Ich hab nicht mal Daumen, um sie zu bedienen.“
Erschrocken springe ich zurück und stürze fast über ein paar nasse Grassknoten hinter mir.
„W-w-wer bist du?“ stottere ich dem Stein entgegen.
„Dein Stein.“
„Was… was für ein Stein?“ Hungrig und frierend sitze ich mitten in der Nacht im nassen Gras und unterhalte mich mit einem Stein. Meinem Stein? Die Einsamkeit scheint Spuren zu hinterlassen.
„Dein. Stein.“ antwortet der Stein, leicht genervt. Müssten Steine nicht geduldiger sein?
„Nein, sind sie nicht. Nimm mich und wirf mich, aber lasse mich nicht los.“
Vielleicht wache ich ja gleich auf, denke ich mir – „Nein, wirst du nicht. Also los jetzt, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.“ unterbricht der Stein meine Gedanken.
Irritiert lasse ich mich auf das Spiel ein. Vorsichtig stehe ich wieder auf, greife nach dem Stein, der immer noch trocken ist, und werfe ihn in das schwarze Nichts.
Ein stumpfes Uff zerreißt die Stille der Nacht.
„Was habe ich dir gesagt?“, ruft mir der Stein wütend zu, „Nicht! Loslassen! Also nochmal…“
Ich hebe den Stein an, hole noch weiter aus – und werfe ihn noch einmal. Diesmal ohne ihn loszulassen…
Wird fortgesetzt…