Zahnarzt
Gestern war ich beim Zahnarzt. Er residiert mit seiner Praxis in einem verlassenen Transportschiff. Seine rostigen Wände zeugen von dessen stürmischer Vergangenheit auf den sieben Weltmeeren. Jetzt spendete der rotbraune, raue Stahl im S noch Kühle. Das Behandlungszimmer, er hat nur eins, befindet sich im Frachtraum, der natürlich nach oben hin offen ist. Früher wurden schwere Container mit grazilen Kränen durch den hungrigen Schlund in den Frachtraum gehoben. Nun verdeckt ein mit Stoff bespanntes Zeltgestänge die Öffnung im Schiffsdeck. Bei Regen dient es als Regenschutz, im Sommer wirft es einen schwachen Schatten auf die kostbare zahnmedizinische Ausrüstung.
Die rotbraunen Schotten des Behandlungsfrachtraumes sind mit wirrem Lametta verziert, das man heutzutage eigentlich nirgends mehr kaufen kann. Der Rohstoff ist einfach zu wertvoll. Doch wie es der Zufall so wollte, fand man nach der Dekommissionierung des Schiffes einen vergessenen Container im Frachtraum, der bis oben hin mit eben diesen wertvollen Aluminiumstreifen gefüllt war. 19,5 Tonnen Lametta. Ein Großteil davon wurde mühevoll zu Aluminiumfolie verschweißt um in die Aluhutproduktion überführt zu werden. Seitdem das Magnetfeld der Erde uns nicht mehr vor der kosmischen Strahlung schützt, hat sich der Ruf der Aluhüte drastisch verbessert. Sie retten nun Leben.
Die Reste des Aluminiumfundes wurden nun also für die Ausstaffierung der Praxis verwendet. Man wollte ein Alleinstellungsmerkmal erschaffen, das dem Zahnarzt dann auch prompt Bekanntheit über die Landesgrenzen hinaus bescherte. Lamettawände!
Gestern saß ich also dort. Den Kopf an die Wand zwischen das Lametta gelehnt. Durch das teils löchrige Stoffdach stachen die Sonnenstrahlen in das Schiffsinnere. Ich saß genau unter einer dieser Lichtsäulen und musste die Augen zusammenkneifen, so dass mir zwei, drei zarte Tränchen aus den Augenwinkeln traten. Meine Schneidezähne bleckten gierig durch meinen nach oben gezogenen Mund. Ich musste eine schreckliche Fratze abgegeben haben, mit meiner silbrigen Perücke und dem verbissenen Gesicht.
Der Zahnarzt – sein Name ist Dr. Hack, Peter Erich Hack, er lernte sein Handwerk beim großen Dr. Toni Zamperoni – hatte den Behandlungsraum verlassen, um den nächsten Patienten auf den Zahnarztstuhl zu begleiten. Dr. Hack hat eine Vorliebe für historisches Instrumentarium und trug daher einen antiken Stirnreflektor. Aus seiner Brusttasche gierte eine kleine Kneifzange der nächsten Behandlung entgegen. Zum Glück trug er sie nur als modisches Accessoire. Was dem Gieren keinen Abbruch tat. Ihm schien nicht bewusst zu sein, welche respekteinflößende Wirkung das antiquarische Werkzeug auf den Großteil seiner Kundschaft hat. Mich eingeschlossen.
Der Spiegel an seiner Stirn greif sich ein paar Sonnenstrahlen und bündelt sie zu einem hellen Suchscheinwerfer, mit denen er den Raum und die wartenden Patienten absuchte.
Eine alte Dame, die ostentativ teilnahmslos in einem billigen Lifestyle-Magazin blättert. Mit jeder Seite, die sie umblättert, entweicht dem Magazin der Duft des beschichteten Papiers. Es bildet eine Koalition mit ihrem überteuerten Eau-de-Toilette und stolziert dann unsichtbar durch die Sitzreihen um sich schließlich durch eines der Oberlichter zu verflüchtigen.
Ein Mann im grau meliertem Anzug, der noch ostentativer und desinteressierter die Papierzylinder observiert, die am Wasserspender fein säuberlich mit der Öffnung nach unten aufgestapelt sind. Er hat die Hände folgsam auf dem Schoß übereinander gelegt und scheint nicht zu merken, dass sich ein Füllfederhalter in seiner rechten Brusttasche geöffnet hat und ein dunkelblauer Tintenfleck sich langsam seinen Weg durch den groben Stoff bahnt um an der frischen Luft als verkrusteter Rorschachtest zu verenden.
Doch wie einer dieser latent sadistischen Bühnenkünstler ist Dr. Hack auf der Suche nach der Person, die den Gang auf die Bühne, den Behandlungsstuhl, am meisten scheut. Der Mensch mit dem verzerrtesten Gesicht, der sich zum Beispiel unter einer Lamettaperücke zu verstecken versucht.
Hack grinst mich an. Die Sonnenstrahlen zwingen mir weiterhin ein saftiges Grinsen ab. Krampfhaft versuche ich meine Lippen zusammenzupressen, um mein Gebiss nicht dem kritischen Blick des Zahnarztes preiszugeben. Die alte Damen blickt erleichtert von ihrem Heft auf und grinst mich triumphierend an. Ich bin der nächste.
Nun reiht auch der Mann im grau melierten Anzug in den grinsenden Reigen ein. Dramatisch wendet er seinen Blick von den papiernen Zylindern ab und grinst mich an. Die Schwestern an der Rezeption tun es ihm gleich und schließlich scheint sich auch die Sonne gegen mich verschworen zu haben und wirft mir ihr kräftiges Grinsen auf das Gesicht.
Aus dem Hack’schen Grinsen wird ein zögerliches Lächeln. Er hat sich breitbeinig vor mir aufgebaut, die groben Hände an den fleischigen Armen in den weißen Kittel gestemmt und eine Augenbraue herausfordernd nach oben gezogen. Die von hinten strahlende Sonne zeichnet eine mystische Aura um seinen wuchtigen Körper. Als er sich leicht über mich beugt springt seine Kneifzange mir fast an den Hals. Dr. Hack schiebt sie beiläufig tätschelnd wieder an ihren Platz zurück.
Ich drücke meinen Leib weiter in den Lamettavorhang und blicke scheu nach links und nach rechts, auf der Suche nach einem Ausweg. Die alte Dame grinst nicht mehr, sie lacht und hält die Modezeitschrift zusammengerollt vor ihrem linkem Auge auf mich gerichtet. Der Mann mit dem Rorschachtest, der mittlerweile die ganze linke Jacketthälfte eingefärbt hat, fängt an zu glucksen. Er hält einen der zylinderförmigen Pappbecher in der Hand, der kleine Finger ist leicht abgespreizt, und prostet mir damit feierlich zu. Dann fängt auch er an in Schüben zu Lachen.
Das Gesicht des Zahnarztes ist nun dicht vor meinem. Er lacht mich laut an und streckt mir seine perfekt symmetrischen Zahnreihen entgegen. Um mich herum verstohlenes Kichern und Lachen, das hin und wieder zu einem Prusten und Gackern eskaliert. Ich bin der ansteckenden Fröhlichkeit ausgeliefert und merke, wie sie sich kribbelnd im Bauch ausbreitet und langsam nach oben steigt um gleich laut wiehernd aus meinem Mund zu entweichen.
Ich blicke in die spiegelglatten, riesigen Zähne von Dr. Erich Peter Hack und nehme etwas verschwommen und überzeichnet mein eigenes Gesicht wahr. Meine Augen scheinen fest geschlossen zu sein.
Erschrocken reiße ich sie auf. Vor mir prangt ein großer gewölbter Zahnarztspiegel. Ich liege auf dem Zahnarztstuhl. Auf meinem Mund sitzt eine Atemmaske. Vorsichtig, ohne meinen Kopf zu bewegen, wandert mein Blick nach links. Distickstoffmonoxid steht auf einer großen Kartusche.
Lachgas.
Der Zahnarzt schaut mich erheitert an.
“Wir sind dann fertig. Alles in Ordnung.”